Ein Brief von Kaiser Tiberius
- kathrinreist
- 17. Juni 2024
- 3 Min. Lesezeit

Die Bergflanke des Parnass ragt majestätisch in den Himmel. Hinten im weithin sichtbaren Felscouloir liegt eine Quelle. Ich kann gut verstehen, dass die Menschen einst aus ganz Griechenland hierher zum Apolloheiligtum gepilgert sind. Delphi hat tatsächlich eine besondere Ausstrahlung. Und vielleicht war der heilige Hain im Sommer schon damals so von Pilgerströmen begangen wie heute von Touristen. Links und rechts vom Weg liegen die Schatzhäuser von Mykene, Naxos, Athen, Sikyon usw., wo deren BürgerInnen mit einer Gabe ihre Dankbarkeit für eine Schicksalswende bezeugten und zugleich die Städte ihren Wohlstand demonstrierten und anlegten. Das können einfache Inschriften sein bis hin zu kostbaren Statuen in jedem Format. Insbesondere Letztere sind im Museum in Delphi ausgestellt.

Hier in Delphi sollen einst die von Zeus losgeschickten Adler aufeinandergetroffen sein – sie hatten den Auftrag, das Zentrum der Welt zu bestimmen. Deshalb liegt in Delphi der Nabel der Welt. Der «Omphalos» sieht aus wie ein riesiges Ei und liegt genau vor der Schatzkammer Athens…
Der Weg windet sich danach noch weiter den heiligen Hain hoch zum Orakel von Delphi im Apollotempel. Apollo soll hier die Schlange Python getötet haben, den Wächter des Orakels und Sohn der Erdgöttin Gaia. Die Mythen schildern Gründe und Hergang unterschiedlich. Fortan aber sprach das Orakel durch die Priesterin Pythia und Delphi wurde zur meistbesuchten Orakelstätte im alten Griechenland. Einmal im Monat sass die Pythia auf einem Dreibein über der Erdspalte, aus der gemäss manchen Quellen ein fauliger Geruch hochstieg. Die Fragen der ausgewählten BesucherInnen beantwortete sie mit einem rätselhaften Satz.

Die Anliegen der FragestellerInnen reichten vom Liebeskummer, über den Wunsch nach Nachwuchs oder Karrierefragen bis hin zu politischen Entscheidungen, diplomatische Beziehungen, Krieg und Frieden. Längst nicht alle waren mit dem Orakelspruch dann auch zufrieden und die Deutung war nicht so ganz einfach. So beschwerte sich König Krösus aus Lydien in Delphi über sein Unglück, obwohl er sich doch nach dem Orakel gerichtet hatte. Pythia antwortete darauf, er selbst sei schuld. Er hätte ihren Spruch eben falsch gedeutet…
Es scheint, dass zu römischer Zeit der Besuch dieser Orakelstätte nicht mehr so populär war. Und genau diesem Umstand verdankt die Wissenschaft einen besonderen Schatz. Das unscheinbare Dokument finden wir am Ausgang des Museums. Oben beim Apollotempel wurden Bruchstücke einer Schrifttafel gefunden. Kaiser Claudius drückt darauf die Sorge aus über den Niedergang der Kultstätte und fordert dazu auf, diese wieder zu beleben. Er nimmt dabei Bezug auf den Prokonsul Lucius Iunius Gallio, der ihm von den Zuständen in Delphi berichtet hat. Und weil diese Tafel datiert ist, wissen wir, dass Gallio im Jahr 51/52 in Korinth als Statthalter amtete. Genau dieser Gallio aber taucht auch in der Apostel-geschichte auf. Während den 1,5 Jahren, die Paulus in Korinth verbrachte (nach Apg 18,11), soll sich folgendes Ereignis zugetragen haben:
Als dann aber Gallio Prokonsul der Provinz Achaia war, traten die Juden vereint gegen Paulus auf, führten ihn vor den Richterstuhl und sagten: Der da überredet die Leute, Gott auf eine Art zu verehren, die wider das Gesetz ist. Als Paulus seinen Mund auftun wollte, sprach Gallio zu den Juden: Ginge es hier um ein Verbrechen oder um eine böswillige Tat, ihr Juden, so würde ich eure Klage ordnungsgemäss zulassen. Geht es aber um Streitigkeiten über Lehre und Namen und das bei euch geltende Gesetz, dann seht selber zu! Darüber will ich nicht Richter sein. Und er wies sie vom Richterstuhl weg. Da stürzten sich alle auf den Synagogenvorsteher Sosthenes und verprügelten ihn vor dem Richterstuhl. Gallio aber kümmerte sich nicht darum.
Apostelgeschichte 18,12–17, Zürcher Bibel
Die heute sogenannte Gallioinschrift ist das einzige Dokument, das ein Ereignis im Leben des Paulus zeitlich einigermassen genau bestimmt. Deshalb ist sie für die Paulusforschung so wichtig.
Ich selbst staune vor der Tafel in Delphi einmal mehr über die Kenntnisse der ArchäologInnen, die die Abkürzungen und die Lücken von Textbruchstücken deuten und mit dem Wissen um die damals üblichen Formulierungen füllen können….
Im Internet finde ich keine vollständige und zugleich transparente, deutsche Übersetzung der Gallioinschrift, die mich gänzlich überzeugt. Einen Eindruck des Inhaltes vermittelt die folgende Übersetzung:
Tiberius Claudius Caesar Augustus Germanicus, zum zwölften Mal ausgestattet mit der tribunizischen Gewalt, zum 26. Mal zum Imperator proklamiert, Vater des Vaterlandes, grüßt die Stadt Delphi. Schon früher war ich der Stadt Delphi nicht nur wohlgesonnen, sondern habe auch Sorge getragen für ihr gutes Geschick, immer habe ich das Heiligtum des pythischen Apollon beschützt. Da sie aber jetzt von Bürgern verwaist sein soll, wie mir jüngst Lucius Iunius Gallio, mein Freund und Proconsul, berichtet hat, so gebe ich als Ausdruck meines Willens, dass Delphi den früheren Glanz vollkommen wiedererlange, euch Anweisung, dass ihr aus anderen Städten Freigeborene nach Delphi als neue Siedler herbeiruft, und dass ihr ihnen und ihren Nachkommen alle Rechte der delphischen Bürger zugesteht wie Bürgern von gleichem und selbem Status. …
Quellen:
Bildquelle zur Keramik: